In Berlin-Westend entwarf Atelier ST ein Familienzuhause im Grünen, das Stiltraditionen ins Heute hebt

Als stünde das Familienzuhause seit 100 Jahren im Dorf de luxe zwischen Grunewald und Avus-Trasse: In Berlin-Westend gelang Atelier ST der Spagat zwischen Tradition und Moderne – und zwar luftig, minimal und familiennah
Familienzuhause Atelier ST Berlin
Gekonnte Zitate aus der Typologie der Waldsiedlung, die ab 1920 von Max und Bruno Taut konzipiert wurde: Tiefgrüner Mineralputz lässt die
fast quadratische Grundform des Neubaus mit dem alten Baumbestand verschmelzen.
Clemens Poloczek

Familienzuhause im Grünen: So gehen Stiltraditionen und Moderne Hand in Hand.

„Neues schaffen, Altes schätzen“, so lautet der Spagat, den das Architektenpaar Silvia Schellenberg-Thaut und Sebastian Thaut seit 20 Jahren leistet. Auch hier gelang er ihnen, im „lichten Berliner Dörfchen“, wie der Philosoph Ludwig Marcuse seine geliebte Eichkamp-Siedlung einst beschrieb. Das Haus schöpft seine Kraft aus dem Kontext: Eingebettet ­zwischen alten Waldkiefern, Eichen und Ahorn­bäumen, mit einem tiefen Vorgarten zur Straße, hüllt sich auch der Neubau ins Naturschöne, in mattgrünen mineralischen Putz. „Vertraute Typologien aus der Nach­bar­schaft sind die fast quadratische Grundform mit dem ruhigen Zeltdach aus dunkel patinierten Keramiksteinen“, erklärt Thaut.

Familienzuhause Atelier ST Berlin

Gekonnte Zitate aus der Typologie der Waldsiedlung, die ab 1920 von Max und Bruno Taut konzipiert wurde: Tiefgrüner Mineralputz lässt die fast quadratische Grundform des Neubaus mit dem alten Baumbestand verschmelzen.

Clemens Poloczek

Haus im Grünen – mit Innerem ganz in Holz

Doch im Inneren der respektvollen Camouflage zeigt der Solitär seine Modernität und Nachhaltigkeit: Die Kubatur im Innenraum ist aus Holz, alle Wände, Decken und diverse Einbauten – als ob die Bäume selbst sich verwandelt hätten, um ein Zuhause zu bilden. Den lichten Kanon bricht nur der samtdunkle Boden aus gegossenem Asphalt, ein Wunsch der Bauherren, ein Paar mit vier Töchtern zwischen drei und 13 Jahren. „Ein wunderbar urbanes Mate­rial, das wir neben Terrazzo vorgeschlagen hatten“, sagt Thaut.

Die Fußbodenheizung im ganzen Haus speist der maßgefertigte, wassergeführte Dauerbrandofen: „Der Heizungsfachmann sagte zu uns: ‚Das ist ja Mittelalter – und Arbeit für Sie!“, erzählt die Bauherrin. „Aber wir lieben diese besondere Wärme.“

Den Essbereich öffnen gewaltige Fenstertüren mit bis zu 4 Meter 85 Breite nach Osten zur Terrasse und nach Süden. Der...

Den Essbereich öffnen gewaltige Fenstertüren mit bis zu 4 Meter 85 Breite nach Osten zur Terrasse und nach Süden. Der Tisch ist maßgefertigt aus altem Eichenholz. Kelim von Berberlin Rugs.

Clemens Poloczek

Im Teilkeller lagern die Scheite, sie stammen von jenen Buchen und Eichen, die für den Bau gefällt werden mussten. Für eine Wärmepumpe wurde sicherheitshalber vorgerüstet, Photovoltaik wäre schwierig angesichts der vielen Baumkronen. Denn das 560-Quadratmeter-Grundstück war zuvor quasi Wildwuchs und noch nie bebaut ge­wesen – der Bauherr ermittelte vor dem Kauf mühsam monatelang, wo in der Welt die vielen Erb:in­nen verstreut waren.

Alle Innentüren krönen Bogen aus schwarz gebeizter Eiche  die Sichtachse zwischen zweien der vier Kinderzimmer im ersten...

Alle Innentüren krönen Bogen aus schwarz gebeizter Eiche – die Sichtachse zwischen zweien der vier Kinderzimmer im ersten Stock.

Clemens Poloczek
Innen offenbart sich ein modernernachhaltiger Holzbau.

Innen offenbart sich ein moderner,nachhaltiger Holzbau.

Clemens Poloczek
Der Zugang zum Gästezimmer im Dachgeschoss mit dramatisch inszeniertem Lichteinfall.

Der Zugang zum Gästezimmer im Dachgeschoss mit dramatisch inszeniertem Lichteinfall.

Clemens Poloczek

Luftige Raumhöhe, minimale Möblierung, maßgefertigte Möbel

Eine Kaminskulptur mit Sitzbank prägt den Wohnraum, gegenüber steht ein robust-gemütliches No-Name-Sofa, zehn Jahre alt und nachwuchstauglich. Drei Stufen heben diese salle séparée leicht über den Bereich fürs Kochen und Essen, der mit drei Meter 40 Raumhöhe wunderbar luftig geplant ist – auch dort ist die Möblierung minimal, aber mit Sinn für besondere Einzelstücke wie den von einem Bran­den­burger Tischler maßgefertigten Esstisch oder den riesigen Kelim aus einem Kreuzberger Spezialteppichgeschäft.

Geborgenheit Das Wohnzimmer prägt der eigens gefertigte wassergeführte Dauerbrandofen mit TadelaktSitzbank  einige Bäume...

Geborgenheit: Das Wohnzimmer prägt der eigens gefertigte, wassergeführte Dauerbrandofen mit Tadelakt-Sitzbank – einige Bäume, die dem Haus weichen mussten, heizen ihn nun.

Clemens Poloczek
Traditionen, modern und einmal anders interpretiert

In der Küche, entworfen von Atelier ST, hat eine Rocket-Siebträgermaschine – die Premium-Klasse für Espressio­nisten – Platz genommen vor dem breiten Panoramafenster zur stillen Straße hinter einer neu gepflanzten Wildfruchthecke. Fast fünf Meter lang erstreckt sich eine der beiden Glasbogentüren im Esszimmer; davor liegt die Terrasse aus klassischen Handstrich-Pflasterriegeln – aber nicht liegend, sondern hochkant verlegt. „Die Ziegel wurden in meiner niedersächsischen Heimat hergestellt. Mein Mann hatte die Idee, sie anders als üblich zu verlegen“, erzählt die Bauherrin. „Verbindendes Element aller Räume im Erdgeschoss sind die Fensteröffnungen in Kreis-, Halbkreis- und gegliederten Rechteck­formen“, erklärt der Architekt. „Sie zitieren spielerisch architektonische Elemente des Art déco, das zur Entstehungszeit der Siedlung noch modern war.“ Von 1918 bis Ende der Zwanzigerjahre hatten die Brüder Max und Bruno Taut (mit verschiedenen Kollegen) ­diese Anlage, benannt nach der Revierförsterei Eichkamp, geplant – Max wohnte hier selbst, ebenso Brunos verschmähte Ehefrau und ­deren Nachfahren bis 1999.

Familienzuhause Berlin Westend Atelier ST

Herz aus Holz: Fichte mit Öl-Wachs-Lasur hüllt alle Wände und Decken ein, der Boden kontrastiert mit Gussasphalt. Aus der Küche blickt man durch Fensterhalbkreise auf die schmale Straße.

Clemens Poloczek
Die Farbe der Mosaikfliesen im Elternbad suchten die Töchter aus.

Die Farbe der Mosaikfliesen im Elternbad suchten die Töchter aus.

Clemens Poloczek

Das Rundbogen-Motiv setzt sich auch in den oberen, sanft auskragenden Geschossen fort: Alle Innentüren krönen Halbkreise aus schwarz gebeizter Eiche. Im ersten Stock liegen vier Zimmer, für die Kinder beziehungsweise zum Arbeiten. Zwei bis drei Fenster pro Raum öffnen Ausblicke ins Grüne. Das Dach beherbergt das Schlafzimmer der Eltern und eines für Gäste. Zwei Duschbäder runden die Struktur ab (Badewannen fanden die Bauherren überbewertet).

„Am Ende der Bauphase“, erzählt der Architekt, „blieben Passanten öfter stehen und sagten: ‚Ui, toll sanieren Sie das alte Gemäuer!‘“ Ein schönes Kompliment für sein Atelier ST: Neues schaffen, Altes schätzen.