Vom praktischen Alltagsgegenstand zum stilvollen Designobjekt – Spiegel begleiten uns seit Jahrhunderten, spiegeln aber längst mehr als nur unser eigenes Abbild.
Im Jahr 1685 schickte die französische Aristokratin Madame de Sévigné ihrer Tochter einen Ratschlag per Briefpost, nachdem diese sich bei ihrer Mutter über die steigenden Einrichtungskosten ihrer neuen Residenz beklagt hatte. „Ich kenne das Vergnügen, einen Raum zu schmücken“, schrieb Madame de Sévigné, deren Briefe bis heute ein unterhaltsames Bild des Lebens am Hofe des Sonnenkönigs Ludwig XIV bieten. „Ich tadle Monsieur de Grignan wegen seines Wunsches, dir einen weiteren Spiegel zu schenken. Sei mit dem zufrieden, meine Liebe, den du hast.“
Im 17. Jahrhundert war ein Spiegel selbst für den Adelsstand noch ein kostbares Gut. Ein Jahrhundert zuvor hatte ein venezianischer, in Silber gerahmter Spiegel sogar einen höheren monetären Wert als ein Gemälde von Raffael. Anekdoten wie diese versammelt das Übersichtswerk „The Mirror. A History“ von Sabine Melchior-Bonnet, dessen Lektüre auch 30 Jahre nach Erscheinen einer Lehrstunde in Kulturgeschichte gleicht, das aber leider nie ins Deutsche übersetzt wurde.
Der erste Spiegel der Menschheit
Heute ist der Spiegel ein Alltagsgegenstand. Wir spiegeln uns ständig; im Aufzug, auf öffentlichen Toiletten, im Rückspiegel, in Fensterfronten und Selfie-Kameras. Der erste Spiegel, den die Menschheit nutzte, war die ruhende Wasseroberfläche. Davon erzählte schon der antike römische Dichter Ovid im Mythos von Echo und Narziss: Männer wie Frauen machten dem schönen griechischen Jüngling Narziss erfolglos den Hof, bis er im Wasser sein eigenes Spiegelbild erblickte und sich in sich selbst verliebte. „Was du siehst, ist nur der Schatten eines Spiegelbilds: Es hat nichts eigenes“, heißt es bei Ovid. „Es kam mit dir und bleibt mit dir, es wird mit dir gehen, wenn du denn nur gehen könntest.“
Ein Spiegelbild kann keine Gefühle erwidern. Narziss stirbt, weil er sich nicht von seinem eigenen Anblick lösen kann. Viele Kunstschaffende haben dieses Bild gemalt, auch Caravaggio, der Narziss Ende des 16. Jahrhunderts abbildete. Heute nennen wir manische Selbstverliebtheit mit erhöhtem Ich-Anspruch Narzissmus. Caravaggios Bild aber ist geradezu andächtig und das Wasser so still, dass man es glatt für einen richtigen Spiegel halten könnte.
Die Menschen waren schon immer davon fasziniert, sich selbst zu sehen. Die alten Ägypter nutzten dafür mit Griffen versehene Handspiegel aus polierter Bronze und Kupfer, die Griechen entwickelten die ersten Modelle mit Standbein – sogar Sokrates soll seinen Lehrlingen geraten haben, sich ständig selbst im Spiegel zu betrachten. In Grabstätten der Etruskerinnen fand man Bronzespiegel, in den Ruinen von Pompeji einen aus Silber. Beim Ausbruch des Vesuvs 79 n. Chr. starb dort auch der Gelehrte Plinius der Ältere, der als einer der Ersten von Glasspiegeln aus dem libanesischen Sidon berichtet hatte.
Venedig, Versailles und das Geheimnis der Spiegel
Viele Jahrhunderte später wurde Venedig zum Zentrum der europäischen Spiegelherstellung. Die Manufakturen in Murano gaben sich alle Mühe, erst ihr Zylinderblasverfahren und dann die Quecksilber-Zinn-Rezeptur, aus der man Amalgam gewann, vor den neugierigen französischen Nachbarn geheim zu halten. Die Industriespionage des 17. Jahrhunderts hätte viel Potenzial für einen historischen Krimi: Italienische Techniker wurden entführt und vergiftet. Der Spiegelsaal im Schloss Versailles wurde 1684 fertiggestellt – die Herstellung seiner Spiegel war der erste Großauftrag für die von Jean-Baptiste Colbert gegründete Glasmanufaktur (der späteren Compagnie de Saint-Gobain), die schließlich das venezianische Spiegel-Monopol beendeten sollte.
Heute wird meist eine Aluminiumfolie auf Glasscheiben vakuumiert, um einen Spiegel herzustellen. Im 19. Jahrhundert setzte man noch auf Silbernitratlösung, die den Weg für die Kommerzialisierung des Silberspiegels ebnete. Plötzlich fand der Spiegel Einzug in die Häuser normaler Bürger und Bürgerinnen; er war nicht länger ein Privileg des reichen Adels. Sabine Melchior-Bonnet schreibt, dass die Spiegel die städtischen Innenräume eroberten, „weil sie etwas boten, was diesen am meisten fehlte – Raum“. Sie zitiert einen namenlosen Beobachter, der 1870 notierte, dass Spiegel Räume heller machen und kleine Zimmer in ihrer Wirkung vergrößern würden. „Sie sind der erste Luxus, den sich ein sparsamer Mensch erlaubt; zwischen zwei Räumen platziert, bilden sie ein anmutiges Arrangement in modernen Wohnungen.“
Der Spiegel fand seinen Weg in die Moderne also zuerst als Dienstleister und wurde erst später zum Designobjekt. Dabei ist kaum ein Accessoire so facettenreich wie der Spiegel. Schließlich ist er der einzige Einrichtungsgegenstand, der sich verändert, wenn jemand vor ihm steht und hineinblickt. Man sagt, der Spiegel zeige die Wahrheit, obgleich das natürlich nur bedingt stimmt; kann ein Spiegel doch auch rechts zu links machen, er kann strecken und drücken, verzerren oder manipulieren.
Zwischen Dienstleister und Designobjekt
Wirft man einen Blick in die Übersichtswerke zum Design des 20. Jahrhunderts, dann werden dort fast ausschließlich Stühle, Sofas oder Leuchten hervorgehoben. Eileen Grays schwenkbarer Spiegel „Castellar“, den sie für ihr Haus E.1027 entwarf, oder ihr runder, verstellbarer Spiegel, der, wie bereits der Name „Satellite“ verrät, an ein Planetensystem erinnert, finden in diesen Sammelbänden kaum Erwähnung. Eine Ausnahme bildet Ettore Sottsass „Ultrafragola“. 1970 entwarf er den Spiegel mit beleuchtetem, wellenförmigem Fiberglas in hellem Pink. Er war neu und hatte das Potenzial zur Ikone. Vor einigen Jahren erlebte der Entwurf eine beispiellose Renaissance, man sah ihn überall, bloß wurde das Design so oft und schlecht kopiert, dass der Glanz und Reiz schnell wieder erstarb.
Der Sottsass der Jetztzeit heißt Gustaf Westman; er macht zwar gefälligere Möbel als der Memphis-Mitgründer, zitiert ihn aber gekonnt. Sein „Flower“-Spiegel scheint ideal für Spiegel-Selfies – dem Markenzeichen von Millennials, die mit jedem Foto versuchen, ein Stück ihres Internet-Ichs festzuhalten, während sie dem Jugendkult langsam entwachsen.
„Spiegel verleihen einem Raum mehr als nur Tiefe und ein Gespür für Theatralik – es ist eine metaphysische Dimension“, findet die Architektin Aline Asmar D’Amman, die bei der Renovierung des Restaurants „Le Jules Verne“ im Eiffelturm auf handgefertigte Spiegel setzte, „um den Himmel von Paris an den Tisch zu holen“. Ein Spiegel eröffne endlose Möglichkeiten. „Selbst in ihrer zeitlosesten und klassischsten Form in einem schlichten, eleganten Rahmen kann es für meinen Geschmack nie genug Spiegel in einem Raum geben.“ Den Eingangsbereich im „Hôtel de Crillon“ konzipierte sie deshalb als Hommage an den Spiegelsaal von Versailles. „Elsie de Wolfe, die von mir verehrte Hollywood-Dekorateurin und eine ständige Inspirationsquelle, teilte diese Obsession für Spiegel – sowohl im Innen- als auch im Außenbereich. Man Ray fing die Seele des Surrealismus durch sein Spiel mit Dualität und Illusion ein. Und Lacans psychoanalytische Theorie beschreibt Spiegel als Konstrukt der Identität.“ In die Architektur übersetzt, sagt Aline Asmar D’Amman, seien Spiegel ein grundlegender Bestandteil eines verzauberten Universums, wie „ein mystisches Tor, das die Vorstellungskraft erweitert.“












