Kolumne: Über Oberschränke und die Frankfurter Küche.
In der Wohnung meiner hessischen Großeltern gab es eine taubenblaue Einbauküche. Als Kind fand ich diese Küche geradezu magisch: aus einer der Schubladen ließ sich ein kleiner Arbeitstisch ziehen, in einer anderen verbarg sich eine integrierte Brotschneidemaschine. Zutaten wie Mehl oder Zucker verwahrte meine Großmutter lose in kleinen Zieh-Schubladen, den sogenannten Schütten. Die Küche mit Griffleisten und grau melierter MDF-Arbeitsplatte war nicht schick, aber immer ordentlich – obwohl hier ständig Essen zubereitet wurde: klare Nudelsuppe, Gurkensalat, Pellkartoffeln mit Grüner Soße, Käsekuchen. Als meine Großeltern starben, wurde die Küche weitergegeben. Sie hatte mehrere Jahrzehnte überlebt. Dass es sich bei ihrem Modell um den Nachbau einer Frankfurter Küche handelte, lernte ich erst viel später. Während ich als Heranwachsende zwar wertschätzte, was in dieser Küche alles an Köstlichkeiten hergestellt wurde, wäre ich nie auf die Idee gekommen, sie schön zu finden oder gar ihren ästhetischen oder designhistorischen Wert zu erkennen.
Darum ging es der Architekten Margarete Schütte-Lihotzky, die die Frankfurter Küche 1926 für das Städtebauprojekt „Neues Frankfurt“ entwickelte, allerdings auch nicht. Sie hatte den Vorläufer der modernen Einbauküche als sehr günstigen, funktionalen und standardisierten Arbeitsraum entwickelt. Ein Labor, das der Frau die Arbeit am Herd erleichtern sollte. Doch war die Frankfurter Küche kein Befreiungsschlag für Frauen, sondern ein Zimmer, das auf Effizienz ausgerichtet war – und in dem es einsam werden konnte. Die Frankfurter Küche war kein geselliger Aufenthaltsort, sondern für eine Person bestimmt, die alle Arbeit in der Küche allein erledigte. Das hatte Virginia Woolf wahrlich nicht gemeint, als sie „Ein Zimmer für sich allein“ schrieb.
Heute soll die Küche kein Arbeitslabor mehr sein. Nein, ganz im Gegenteil, sie wird als kommunikatives Zentrum geplant und freimütig als Herz des Hauses betitelt. Eine Einbauküche? Spießig. Vielmehr wird die Küche mit großer Insel und ohne Oberschränke geplant. In den meisten Küchen spielt sich heute fast alles auf Hüfthöhe ab. Für die einen ist der gewonnene Freiraum in der Höhe ein Luxus, für die anderen eher eine Notwendigkeit – Korpusse und Fronten sind teuer.
Erst kürzlich erzählte mir ein Interiordesigner, dass er nur zu gern die Oberschränke seiner Küche rausreißen würde, was leider nicht möglich wäre, weil es sich um eine Mietwohnung handelt. Nicht selten klingt es, als wären Oberschränke eine ästhetische Vollkatastrophe. Woran liegt es, dass Oberschränke derzeit nicht den besten Ruf genießen? „Vielleicht, weil die typische Poco-Domäne-, Höffner- oder IKEA-Küchen immer aus Unter- und Oberschrank bestand und man sich von dieser Spießigkeit lösen wollte“, glauben Matthias und Lea Hiller vom Leipziger Interiordesignbüro Studio Oink. Als überflüssig würden die AD100-Designer:innen Oberschränke nicht unbedingt bezeichnen, allerdings komme es darauf an, wie man sie einsetze. Ein Raum ohne Oberschränke könnte freier, moderner und klarer wirken. „Man kann die Raumwirkung durch Wegnahme der Oberschränke schon ändern. Das hängt aber immer vom vorhandenen Raum ab und auch von der vorhandenen Küche. Sicherlich wird der Raum optisch anders wirken, wenn die Oberschränke ihren Platz an der Wand räumen“, sagen die Expert:innen. Aber: „Praktisch sind sie natürlich auch. Quasi richtige Stauraumwunder! Und gegebenenfalls sogar optische Hingucker.“
Derzeit spielen hochwertige Fronten und Materialien eine größere Rolle in der Küchengestaltung, wie das Münchner Küchenstudio Dross & Schaffer hier im Interview verrät. „Bei den Fronten erleben wir momentan eine ganz neue Richtung: Sie bekommen Rillen, Muster; dreidimensionale Effekte.“ Mit den richtigen Fronten kann auch der Oberschrank eine eigene gestalterische Qualität mitbringen und den Raum strukturieren. Gleichzeitig lässt sich die ungeliebte Mietküche optisch schnell aufwerten, wenn man hässliche Schränke aus dem Blickfeld entfernt. Für eine Renaissance der Frankfurter Küche wäre ich übrigens noch nicht bereit, was weniger an ihrer Gestaltung als an ihrem Zweck liegt – zu schön ist die Küche als Raum der Gemeinschaft. Ob mit oder ohne Oberschränke: die eigene Küche ist kein Labor.


