Radikale Talente: Diese Kreativen lassen sich von ihrer Intuition leiten.
Vor gut hundert Jahren verfolgte das Bauhaus eine Mission, die damals radikal war: Die bildende Kunst und das Design sollten verschmelzen. Es ging darum, schöpferischen Geist in Alltagsgegenstände einfließen zu lassen. Später, in den 1960er- und 1970er-Jahren, entstand „Radical Design“. Die vom Kurator Emilio Ambasz ins Leben gerufene Bewegung hatte das Ziel, mit dem Mainstream der Standardisierung zu brechen und utopisch zu sein. Ihr gehörten Gae Aulenti an, Ettore Sottsass, Archizoom, Superstudio, Gaetano Pesce, und sie alle wandten sich gegen die Dominanz des modernen Minimalismus – mit spielerischen, modularen Entwürfen. Und mit Farbe!
Diese Kreativen aus Kunst und Design müssen Sie 2025 auf dem Schirm haben
Heute stellt sich die Frage: Ist Radikalität immer noch eine Utopie? Für den französischen Künstler Marc Leschelier, der seine Arbeiten aus Beton und Zement als „Architektur ohne Nutzen“ bezeichnet, ist sie zumindest eine Option: „Architektur wurde immer so verstanden, dass sie eine Funktion haben müsse. Wenn man sich dagegen wehrt, gilt man gleich als radikal. Ich glaube, das wird sich irgendwann ändern.“ Diese Form von Subjektivität ist etwas, das auch den niederländisch-schweizerischen Designer Dario Erkelens interessiert. Er erschafft Objekte und Möbel, für die er Plastik, Holz und Metall verwendet, das er auf seinen Rundgängen durch die Stadt auf der Straße findet. „Ob das nun radikal ist oder nicht, hängt davon ab, wie man den Begriff definiert“, sagt er. „Wenn es bedeutet, bestehende Systeme und Normen infrage zu stellen, dann ja.“
Doch nicht alle, die sich der Nachhaltigkeit verschrieben haben, sind sich der Radikalität ihrer Arbeit bewusst. Der Koblenzer Bildhauer Niclas Wolf etwa benutzt Keramik, Eisen, Leder oder Bronze für seine Werke, die aussehen, als bestünden sie aus Holz oder Lavastein. „Manche sagen, das sei ästhetisch, andere nennen es radikal. Ich stimme beidem zu.“ Der Pariser Designer Jean-Baptiste Durand nennt seine Arbeitsweise „Sampling“ und „Mashup“. Die musikalischen Metaphern stehen bei ihm für das Sammeln und Amalgamieren von Referenzen. „Ich entwerfe, indem ich High- und Lowtech-Materialien zu einer dystopischen Science-Fiction-Ästhetik kombiniere.“ In Zukunft möchte Durand noch mehr mit Textilien arbeiten und Technologien nutzen, die ihm im Moment nicht zur Verfügung stehen, auch weil die Grundbestandteile für ihn noch zu teuer sind. Seine Arbeit betrachtet er als „stilistische Forschung“ und betont: „Es geht um die Form, die Funktionalität kommt erst später dazu.“
Radikalität als Design-Kompliment
Willie Morlon und Gemma Barr verstehen Radikalität als Kompliment. Der in Brüssel lebende Franzose fiel auf der letzten Designparade Toulon durch seine Einlegearbeiten aus Gipskarton auf, mit denen er einen Raum in der Villa Noailles mit erstaunlichem Rokoko-Charme füllte. „Ist es radikal, BA13-Gipskarton zu verwenden?“, fragt er. „Ich würde sagen, das hängt von der Umgebung ab – wie man es kontextualisiert. Im Bereich des Interiordesigns ist meine Arbeit radikal, aber sie ist auch ein Echo der dekorativen Kunst.“ Die schottische Bildhauerin und Designerin Gemma Barr wiederum kreiert von Stalaktiten inspirierte Möbel, für die sie auf spektakuläre Weise mathematisch exakte Geometrien mit geologischen Formen der Natur vermischt. Dabei experimentiert sie gern mit recycelten Materialien wie Metall, Glas, Keramik, Kunststoff und Holz. Sie ist nach Eindhoven gezogen, um mit dem spanischen Künstler Nacho Carbonell zusammenzuarbeiten. „Hier in Eindhoven und generell in den Niederlanden“, sagt sie, „gibt es viele Designer:innen, die mit Konventionen und Codes brechen, und oft ergibt sich die Kreativität aus dem Material selbst.“
Auch Mark Malecki, der in New York und Paris lebt, bekennt sich ohne Umschweife dazu, dass ihn bei seiner Arbeit die freie Kunst inspiriert – und er dabei ziemlich radikal sei. Malecki konzentriert sich vor allem auf Industrieabfälle wie Metall und Glas. Aus ihnen konstruiert er die Sinne verwirrende Stühle, Tische und Leuchten an der Schnittstelle zur Skulptur. „Das ist meine Art zu denken. Ich mag es nicht, Stücke zu produzieren, die beige und leicht verständlich sind.“
Gemma Barr ist überzeugt: „Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, es ist nicht so, dass alles schon gemacht worden ist. Es gibt noch viel zu erforschen, und wir müssen immer noch Normen brechen. Das ist es, was uns antreibt.“ Mark Malecki kommen die Ideen, während er auf Baustellen sein Geld verdient, Treppen, Geländer und Brüstungen zusammenschweißt. Sein in der Praxis vertieftes Verständnis des Materials ermöglicht ihm einen intuitiven Zugang zu Form und Komposition seiner eigenen Werke.
Von der Intuition geleitet
Intuition also: Mehr als Radikalität ist dies der Begriff, den sie alle immer wieder betonen und für sich beanspruchen. So auch Marc Leschelier, der es in seinem Atelier genießt, ein Vokabular zu entwickeln, das außerhalb gängiger Konventionen angesiedelt ist. Jean-Baptiste Durand bezeichnet seine Arbeit als „intuitiv, sogar naiv, opportunistisch“. Niclas Wolf stimmt dem zu: „Sie wissen ja, wie das mit der Keramik funktioniert: Ich öffne den Ofen, und es kann eine gute oder schlechte Überraschung sein. Ich kann nicht alles kontrollieren, vor allem nicht die Oberfläche.“ Ein Jahrhundert nach dem Bauhaus sind wir, so scheint es, weit entfernt von einer philosophischen Vision. Die Radikalität, ob gewollt oder nicht, liegt nicht in der Idee, sondern in der Materie: Sie ist es, die über allem steht.







