Historische Architektur trifft auf aktuelle Wohntrends: So gelang Marcante Testa in einem Domizil in Piemont der stilistische Spagat

Das italienische Innenarchitektur-Studio ließ ein Haus aus dem 19. Jahrhundert zur Bühne werden für Raumtricks, Farbflashs und Nostalgie mit Augenzwinkern
Historische Architektur trifft auf aktuelle Wohntrends So gelang Marcante Testa in einem Domizil in Piemont der...

Das Innenarchitektur-Studio Marcante Testa hat im Piemont ein 300 Quadratmeter großes Haus aus dem 19. Jahrhundert, das einst lediglich als Ferienhaus genutzt wurde, in ein stilvolles Domizil verwandelt.

Saluzzo. Vielen wird der Name dieser mittelalterlichen Kleinstadt im Piemont nichts sagen, doch war sie einst Sitz einer mächtigen Mark­graf­schaft – bis sie im 16. Jahr­hundert zum Schauplatz mehrerer Schlachten zwischen dem Haus Savoyen und Frankreich wurde. Andrea Marcante und Adelaide Testa kennen die Regional­geschichte dagegen gut: nicht nur, weil ihr Innen­architektur-Studio in Turin und damit nicht allzu weit entfernt liegt, sondern auch, weil ihr aktuelles Projekt sie mitten ins Herz des historischen Stadtzentrums führte.

Die Altstadt von Saluzzo ist geprägt von mittelalterlicher Architektur mit historischen Gebäuden die einen Eindruck von...

Die Altstadt von Saluzzo im Piemont besticht durch ihre historischen Gebäude und ihren authentischen Charakter

Matthieu Salvaing

Raumwirkung von oben

Das Gebäude, um das es geht, ist allerdings nicht ganz so alt – es scheint aus dem 19. Jahrhundert zu stammen, darauf deuten zumindest das große Deckenfresko und die leuchtend blaue französische Tapete hin, die den Salon schmücken und erstaunlich gut erhalten waren. Die Entdeckung inspirierte das Duo, auf eine Palette von Farbtönen aus jener Epoche zu setzen, um einen roten Faden durch alle Räume des Hauses zu spinnen, die sonst – außer verblassten Malereien an der Decke des Ess­zimmers – wenig von der Pracht vergangener Zeiten bewahrt hatten. Für die Bauherr:innen stellte das allerdings kein Problem dar, denn sie wünschten sich ohnehin etwas Modernes mitsamt dem entsprechenden Komfort.

Deckenfresko im Salon vor allem in dunkel blau gehalten und mit Menschen in der Mitte als Mittelpunkt

Das historische Deckenfresko im Salon deuten darauf hin, dass das Gebäude aus dem 19. Jahrhundert stamm

Matthieu Salvaing

Wie Recherche das Hausverständis verbesserte

Marcante Testa wollten den Geist des 300 Qua­drat­meter großen Hauses und alles, was an sein früheres Leben erinnerte, jedoch nicht einfach ignorieren. So wurden zum Beispiel für die Installation einer Fuß­bo­den­heizung die Terrakotta-Fliesen entfernt, aber später in ähnlicher Weise wieder neu verlegt. „Wir sind natürlich keine Historiker oder Restauratoren, aber wir recherchieren viel“, erklärt Adelaide Testa. Dabei fanden sie heraus, dass das Haus zuvor nicht permanent, sondern offenbar nur während der Sommermonate bewohnt wurde. „Ein Ferienhaus impliziert etwas Freies, das hat uns als Inspiration gedient für eine Mischung der Epochen und in Bezug auf die Referenzen, die wir unsererseits hinzugefügt haben. Zum Beispiel sehe ich das Eltern­schlaf­zimmer und die Küche ein wenig in den 1960er-Jahren. Nicht im Sinne eines strengen Stilvorbilds, son­dern mit Blick darauf, wie man damals Urlaub gemacht hat.“

Der Flur ist mit einem Terazzo Fliesen besetzt und die Wände sind bunt.

Im Flur fasst Terrazzo wiederverwertete Zementfliesen. Die Deckenleuchten sind mit Pierre Freys „Toile de Nantes“ bespannt.

Matthieu Salvaing

Zeitgenössische Architektur trifft auf historische Elemente

Die Interiordesigner:innen fanden ihren eigenen Weg, um solche Bezüge subtil anzudeuten. Die Wände nahmen sie sich nach und nach vor, um historische architektonische Elemente herauszuarbeiten und mit zeitgenössischen Akzenten zu verbinden. Die Türrahmen wurden restauriert, aber in aktuellen Tönen von Ressource lackiert. Die Grenzen zwischen dem, was ist, was einmal war und was gewesen sein könnte, ließen sie so raffiniert verschwimmen. Die Höhe eines Möbelstücks, einer Tür oder eines Fensters, die Farbe einer Wand, ihre Ma­te­ria­lität – das alles konnte zum Ausgangspunkt für eine fantasievolle Interior-Narration werden.

Das Esszimmer mit rundem Tisch umringt von 6 gleichen Stühlen. Fenster mit Blick auf die typisch italienische Altstadt

Auf der anderen Seite des Wandschirms liegt der Essplatz mit Le-Corbusier-Tisch und Ponti-Stühlen, alles von Cassina. Der Raumteiler wurde aus Stahlprofilen, Holzpaneelen und Vorhängen aus Kvadrat-Stoff maßgefertigt. Lüster von Santa & Cole, Tapetenfries in Marmor-Optik von Zuber.

Matthieu Salvaing

Szenografische Tricks verleihen den großen Räumen eine besondere Stimmung

Dass Marcante Testa Meister:innen darin sind, Vo­lu­mi­na innerhalb von Volumina zu platzieren, kam ihnen bei diesem Projekt sehr zugute. Denn wie kann es gelingen, in einer Residenz mit so großen Räumen wirklich Atmosphäre zu schaffen und zu verhindern, dass sich die einzelnen Möbel im Raum verlieren? Ganz genau, durch szenografische Tricks: hier ein Wandschirm in Form eines Kreis­segments, um die Küche abzutrennen und den Essbereich zu definieren; dort ein maßgefertigtes Möbel­stück für den Fernseher, um die gefühlten Di­men­sionen des Wohn­zim­mers zu verändern; oder ein ornamentaler Metall­rahmen (natürlich im Sixties-Look), um den An­klei­­de­bereich des Schlafzimmers herauszustreichen – die Ein­fälle der beiden waren vielfältig. „Es ist offensichtlich, dass Räume nicht nur durch Wände strukturiert werden können“, bestätigt Andrea Marcante. „Auch durch einen Paravent, eine Farbe oder einen Rah­men. Im Grunde sind unsere stilistischen Entscheidungen immer funktional motiviert: Wie ein Vo­lumen aufgeteilt ist und wie man das verbessern kann, das alles geht sehr konkret von der Architektur aus. Anschließend kann man dann verkleiden, hervorheben, schmücken – aber die ersten Ent­schei­dungen haben immer ganz praktische Gründe. Zu­erst ist da der Raum, alles andere folgt später.“

Freistehende Badewanne in einem Badezimmer

Den Waschtisch im Bad entwarf das Duo für Ex.t, die Fliesen für Ceramica Vogue

Matthieu Salvaing
Das Badezimmer mit zwei Waschbecken über denen zwei gleiche Spiegel und Lampen hängen.

Die Spiegel wurden maßgefertigt und alle Armaturen sind von Zucchetti.

Matthieu Salvaing

Und im besten Fall entsteht dann jene moderne Magie, die heute die Räume des Hauses belebt – wie auch die große Terrasse. Wer es sich dort auf Jasper Morrisons „Thinking Man’s Chairs“ bequem macht und die Stadt betrachtet, versteht, warum sich Ita­liener und Franzosen einst so erbittert um Saluzzo gestritten haben.