Killt Politik die Kunst der Gegenwart?

Für AD schreibt Gesine Borcherdt jeden Monat über Phänomene der zeitgenössischen Kunst. Zum Auftakt: Warum gute Kunst nicht didaktisch, sondern respekt- und grenzenlos sein sollte
13. Berlin Biennale Kunstwerk von Han Bing
Innovativ und amüsant oder gewollt und altmodisch? Han Bings „Kashmiri Cabbage Walker“ 13. Berlin Biennale.Eike Walkenhorst

Die Berlin Biennale war ein Tiefpunkt: Moralische Dogmen und Didaktik erstickten die künstlerische Ästhetik. Dabei ist gute Kunst per se widerständig, findet Gesine Borcherdt.

Auf die 13. Berlin Biennale war ich gespannt. Versehen mit dem Titel „Das Flüchtige weitergeben“, hieß es verheißungsvoll, man werde hier Kunst sehen, die „unter Extrembedingungen“ entstanden sei, zugleich aber auf Humor setze. Die Idee gefiel mir. Denn seit der letzten Kunstbiennale von Venedig, nein, seit der Documenta 15 in Kassel, nein, ­eigentlich schon davor hatte ich in vielen Museen, Kunst- und Kulturvereinen nichts mehr zu lachen gehabt. Doch dann stand ich in den Kunst-Werken, dem Haupt­ort der Berlin Biennale, und hatte das Gefühl, an einem Tiefpunkt angelangt zu sein: In dem Wettbewerb gegen künstlerische Ästhetik und für moralisch-didaktische Illustrationen, in dem sich Kunstinstitutionen offenbar ­gerade befinden, belegte die Schau den ersten Platz.

13. Berlin Biennale: Anrührend, aber nicht innovativ

Die Künstlerin Chaw Ei Thein, geboren 1969 in Yangon, Burma, zeigte genähte Puppen, die auf Proteste in Myanmar ­verwiesen und auf die, so der Wandtext, „auf Unterstützung basierende Natur menschlicher Beziehungen, die in der Übergangsphase zwischen erzwungenem Exil und einer fragilen, aber doch kraft­vollen diasporischen Handlungsmacht geknüpft werden“. Die Ägypterin Huda Lutfi hatte aus Zeitungsausschnitten Collagen in Spitzhutform geklebt, die auf Holzstangen saßen und an den Arabischen Frühling ­erinnern sollten. Und es gab einen Garten der Hoffnung der Inderin Iris Yingzen, die vor ihrem Haus im konfliktgebeutelten Nagaland Guerilla Gardening für den Frieden betreibt, was hier in Form von Indigofarbe auf Brennnessel- und Jutefasern zu bestaunen war.

So anrührend sich die Geschichten über friedliche Proteste lasen, so schwach waren die visuellen Behaup­tungen, in denen sie Gestalt annahmen. Masken, Zeichnungen, Textilarbeiten, Wackelvideos, Collagen, Soundskulpturen, Schriftbilder, ein Erdloch im Garten: All das war weder formal noch technisch interessant. Es war auch nicht lustig oder innovativ, im Gegenteil, die meisten Stücke wirkten gewollt, ­gebastelt und altmodisch. Schon in Venedig hatte ich gemeint, es bei einer abstrakten Weberei mit einem Wandteppich aus dem 19. Jahrhundert zu tun zu ­haben – dabei hatte hier die argentinische, aus einer indigenen Gemeinschaft stammende Textilkünstlerin Claudia Alarcón gemeinsam mit 13 Kolleginnen Hand angelegt, und zwar im Jahr 2023.

Politischer Symbolgehalt versus bildnerische Qualität

Verstehen Sie mich nicht falsch: Diejenigen, die so etwas herstellen, trifft dabei keine Schuld. Überall auf der Welt arbeiten Menschen in alten Traditionen, verwandeln Erfahrungen mit Krieg, Verfolgung und Unterdrückung, den eigenen Glauben, persönliches Schicksal oder schlichtweg das, was sie mit ihrer Heimat verbindet, in Kunsthandwerk, Basteleien und andere Dinge. Sie alle haben ein Anliegen und das Recht darauf, gesehen zu werden. Und ja, über das, was die Menschen in fernen Ländern umtreibt, sollte ich mehr wissen. Doch gehören diese Dinge in Biennalen und Museen für Gegenwartskunst? Wären nicht Reportagen und Dokumentationen die geeigneteren und anschaulicheren Medien, um auf Widerstände ­indigener Gruppen aufmerksam zu machen, ja ihrer Dringlichkeit gerecht zu werden? Wieso zeigt man dem saturierten Blick des westlichen Kunstpublikums Dinge, die hier als Ethno-Kitsch Klischees des Globalen Südens bedienen?

Viele Kunstinstitutionen haben sich in Ghettos unterdrückter Minderheiten verwandelt, deren Werke man nicht an bildnerischer Qualität, sondern an ihrem politischen Symbolgehalt misst. Verantwortlich für diesen ästhetischen Niedergang sind die ­aktivistisch, postkolonial und queer-feministisch geschulten Kura­torinnen und Kuratoren, die mit einem ideologisch getriebenen Programm das aus dem Blick verlieren (oder es in Studien­gängen wie Curatorial Studies nie gelernt haben), was gute Kunst auf der ­ganzen Welt verbindet: der Drang, einer eigenen Welt Ausdruck zu verleihen, statt auf politische Ereignisse zu verweisen. Die Neugier auf neue Produktions­techniken, statt Überkom­me­nes zu perpetuieren. Die Fähigkeit, überraschende, eindringliche und fantasievolle Formen für Erzählungen zu finden, die ­berühren, statt zu berichten. Es ist unwahrscheinlich, dass so etwas im Globalen Süden nicht existiert – doch es wird uns in solchen Ausstellungen nicht gezeigt, ebenso wie man hier keine brillanten Künstler der nördlichen Hemi­sphäre findet. Die Erblast der Ausbeutungs­historie ihrer Herkunftsländer zu tragen und unter Generalverdacht einer heteronormativen „weißen Überlegenheit“ zu stehen, reicht aus, um von Präsentationen aus­geschlossen zu werden, in denen früher die Kunst der Zukunft zu sehen war.

13. Berlin Biennale Kunstwerk von Han Bing

Sieht etwas welk aus, so wie die gesamte 13. Berlin Biennale: Han Bings „Kashmiri Cabbage Walker“ mit dem Titel „Den Kohl in Berlin ausführen“.

Eike Walkenhorst

Kunst darf aggressiv und witzig sein

Heutige Ausstellungen, die auf Schlag­worten wie „Widerstand“, „Queer­ness“, „Kollektiv“, „Empathie“, „Heilung“ und „Freiheit“ ­konstruiert sind, haben etwas Zwanghaftes. Auflehnung, Anderssein, Selbst­behauptung, Sensibilität, Offenheit, Emotionalität, Intelligenz und Experimen­tierfreude haben dagegen schon immer die Haltung ausgezeichnet, aus der heraus gute Kunst entsteht. Durch die ­aktuelle Dogmatik jedoch gerät der Kunstbegriff unter die Räder eines Kulturbetriebs, der Besucher moralisch instruieren will. Er spricht ihnen selbstständiges Denken und Urteilen ab. Noch schlimmer: Er will sie ­erziehen – und das ist nicht nur ästhetisch und moralisch überaus fragwürdig, sondern auch gefährlich. Denn wenn Kunst einer Gesinnung entsprechen und einem Netzwerk von Funktionären dienen soll, passiert das, was wir aus Diktaturen kennen: Kunst wird zum Abziehbild eines ideologischen Leitgedankens. Auch ein Aktivismus, der gegen den „Globalen Norden“ und somit absurderweise ­potenziell gegen westliche Werte wie Demokratie, Kunst- und Meinungsfreiheit angeht, ist eine Ideologie. Man kann daran glauben, sich davon antreiben lassen, ihm ­applaudieren – aber als geistige Vorgabe hat er in Kultureinrichtungen nichts zu suchen.

Dass dort nun außerdem überall ein code of conduct herrscht, der auf Respekt und Diversität verweist, klingt zwar gut – doch er schränkt Kunst darin ein, bissig, witzig, aggressiv, provokant und fordernd zu sein, mit Bildern und Symbolen zu spielen, die ­durchaus dazu da sind, zu triggern, wovor neuerdings ebenfalls gern gewarnt wird.

Mehr ästhetische Herausforderung, bitte!

Dabei genügt ein Blick in die Kunstgeschichte, um zu erkennen, dass Diplomatie noch nie das Mittel der Wahl war, wenn man vorankommen wollte. Michelangelo etwa verwandelte das Jüngste Gericht in der Sixtinischen Kapelle in eine unerhörte Bildwelt aus Emotionen und Nacktheit, die nach seinem Tod eilig überpinselt wurde. Und hätte Caravaggio die Malerei revolutioniert, ohne den Heiligen Schmutz unter die Füße zu malen? Wo wäre die Moderne ohne Edvard Munchs Übertragung seiner geplagten Psyche in den „Schrei“? Gäbe es das Ready-made, hätte Marcel Duchamp nicht ein Pissoir signiert? Hans Bellmers erotische Fotos zergliederter Puppen und Francis Bacons kreischende Päpste stellen alles in den Schatten, was Kunstbetrachter seit Hieronymus Boschs Höllenszenerien verstört hatte. Dann hob Hermann Nitschs blutiges Orgien-Mysterien-Theater das Ganze auf eine neue Ebene. Yayoi Kusama überzog Möbel mit genähten Penissen, und Marina Abramovic brachte sich in Extremperformances an die Grenze dessen, was Körper und Psyche aushalten. Cindy Shermans Selbstporträts überwanden unverfroren Stereotype des Weiblichen, die Tracey Emin mit schonungslosen Erzählungen über ihre Abtreibung und Bettgefährten gänzlich aushebelte.

All diese Künstler waren angetreten, innere und gesellschaftliche Schranken mit ästhetischen Herausforderungen zu überwinden. Und waren nicht sie es, die Kunst neu und grenzenlos dachten, die queer und verquer waren, streitbar und respektlos, und genau damit gegen jede Form von Unterdrückung antraten? Gegen alles, was auch nur im Entferntesten einem Verhaltenskodex oder gar Warnungen entsprach, gingen sie mit kompromisslosen Werken vor, ohne sich politisch zu posi­tionieren, Proteste abzubilden und wie ­formgewordener Sozialkundeunterricht auszusehen.

Medardo Rosso Bronze „Enfant au sein“ Kunstmuseum Basel

Gegengift muss fließen: Medardo Rosso („Enfant au sein“, Bronze, 1910–14) war seiner Zeit weit voraus. Im Kunstmuseum Basel wurde sein bildhauerisches Werk im Sommer Seite an Seite mit Gegenwartskunst von Miriam Cahn oder Isa Genzken gezeigt.

Markus Woergoetter

Es geht auch ohne kuratorische Buzzwords

Um mich von der Berlin Biennale zu ­erholen, ging ich in die Ausstellung über den Bildhauer Medardo Rosso (1858–1928), dessen zarte, fließende Köpfe an der Schwelle von Präsenz und Verschwinden im Kunstmuseum Basel zu sehen wa­ren. Seine Skulpturen flankierte feinfühlige Ge­gen­­warts­kunst, und es war kein Werk dabei, das nicht aus eigener Kraft heraus widerständig und fluide war. Miriam Cahns geisterhafte Figurenmalerei, Alina Sza­pocz­ni­kows Fotos von Kaugummi­skulp­turen, die ­aussehen wie ephemere Körper, Robert Morris’ Filzfaltung, in die man sich einen Menschen hineinimaginiert, Senga Nengudis organisch atmende Verspannun­gen aus Nylonstrümpfen, Marisa Merz’ mystische Wesen, die sich fast in nichts auflösen: Ganz ohne kura­to­rische Buzz­words verkörperte diese Kunst die Trans­for­mation von Freiheit, Schmerz und Vorstellungs­kraft in den Raum, ­evozierte das Gefühl des Flüchtigen, ohne reflexhaft das Flüch­tige weitergeben zu wollen. Die Schau erinnerte daran, wie es sich anfühlt, wenn Kunst Grenzen sprengt, statt „Widerstand“ abzubilden, dass sie unter die Haut geht, statt zu ­„heilen“, dass sie spielerisch verschlingt, verdaut und ­ausspuckt, statt für „Fürsorge“, „Empathie“ und „menschliche Beziehungen“ zu sorgen. Kuratoren und die sich ihnen andienenden Kunstkritiker, die das nicht sehen, mögen gern in Politik und Aktivismus abwandern, in die Welt der Wimpel und Werbeaufkleber. Die Zeit, ihnen Biennalen und Kunstmuseen anzuvertrauen, ist hoffentlich bald vorbei.