Ikebana für Zuhause: Ikebana-Meister Toshiro Kawase und die Ikebana-Lehrerin Angelika Mühlbauer erklären die Hintergründe und Regeln der japanischen Blumensteckkunst.
Ikebana ist die japanische Blumensteckkunst, die über das einfache Arrangieren von Blumen hinausgeht und weitaus mehr ist, als pure Floristik. „Ikebana hat seinen Ursprung im 6. Jahrhundert, als man dem chinesischen Brauch folgte und Opferblumen in Tempeln besonders kunstvoll aufstellte“, erklärt die Ikebana-Lehrerin Angelika Mühlbauer. Anstelle eines lediglich üppigen Blumenstraußes kommt es bei Ikebana also auf die Harmonie des Aufbaus und der Farben an. „Ikebana ist eine Kunst, die vom Zeitgeist geprägt wird und so den Blick auf Architektur und Design richtet“, ergänzt Mühlbauer.
Diese Ikebana-Formen gibt es
Im Laufe der Zeit haben sich unterschiedliche Ikebana-Formen herauskristallisiert, die zwar verschiedene, teils komplizierte, Regelwerke aufweisen, sich aber dennoch alle auf die drei Gestaltungselemente Himmel (Shin), Menschheit (Tai) und Erde (Soe) berufen. „Fast alle über die Jahrhunderte entwickelten Stilrichtungen kann man auch heute noch finden“, weiß Mühlbauer. „Am weitesten verbreitet sind jedoch Formen des Ikebana, die weniger komplizierten Regeln unterliegen und als Moribana (Schalenarrangement), Nageiere (Vasenarrangement) oder im freien Stil gestaltet werden können.“
Diese Blumen eignen sich für Ikebana
„Die am meisten verbreitete Ikebana-Schule ist die Sogetsu-Ikebana-Schule“, weiß Mühlbauer. „Sie wurde 1927 von Sofu Teshigahara gegründet. Sein Leitspruch lautete: Ikebana kann von jedem, zu jeder Zeit, an jedem Ort, mit jedem Material und jedem Gefäß ausgeübt werden.“ Folglich gibt es zwar nicht die richtige Auswahl der Ikebana-Blumen, dennoch haben die Pflanzen eine eigene Symbolik inne. Während Bambus für Langlebigkeit und einen starken Willen steht, verdeutlicht die Apfelblüte Familie und Einklang. Die Orchidee wiederum symbolisiert Freude, Chrysanthemen drücken Würde aus, und Jasmin ist lebensbejahend. So ist es am Ende die Kombination der ausgewählten Blumen, die eine eigene Geschichte in dem entstandenen Ikebana-Gesteck erzählen.
Ikebana-Arrangement selber stecken – so geht's richtig
Wie eben erklärt werden zunächst die Pflanzen unter Sorgfalt und nach ihrer Form ausgewählt. Dabei sollte bereits über die Hauptlinien, denen die Pflanze folgt, nachgedacht werden. Die Hauptlinie ist am längsten und steht am höchsten Punkt des Arrangements für den Himmel (Shin), die zweite Linie steht für die Menschheit (Tai) und sollte halb so lang sein – die Erde (Soe) bildet die letzte Linie und ist wiederum halb so lang. Alle anderen Elemente des Arrangements dienen dazu, diese Ordnung der Hauptlinien zu unterstützen. Neben den Proportionen, die das Verhältnis von Mensch und Natur ausdrücken, kommt es auch auf die Farben sowie die eigene Kreativität der Künstler:innen an. Zudem sollte bei jedem Ikebana-Gesteck die aktuelle Jahreszeit sichtbar werden, denn sie stellt einen wichtigen Bestandteil der natürlichen Ordnung dar. „Wir gestalten ein Ikebana immer so, dass es zu der eigenen Stimmung und Umgebung passt“, erklärt Mühlbauer.
Auf diese Ikebana-Regeln sollten Sie achten
Auch wenn die Auswahl der Elemente im Grunde genommen freien Willens erfolgt, sollten die Pflanzen so geschnitten werden, dass sie in einer ausgewogenen Proportion zueinander stehen. Darüber hinaus sollte sich jeder, der mit dem Stecken vertraut werden möchte, ausreichend Zeit für einzelne Arrangements nehmen. Jeder Handgriff ist wohl überlegt und wird bewusst gesetzt, sodass die entstandene Komposition am Ende aus jeglichen Perspektiven harmonisch erscheint. Zuletzt gehört auch der leere Raum berücksichtigt, der sich zwischen den Elementen befindet. Dieser ist für die perfekte Harmonie genauso wichtig, wie die einzelnen Pflanzen selbst.
Das ist die Ikebana-Grundausstattung
Von der richtigen Schale bis hin zu den Hilfsmitteln: Diese folgenden Tools benötigen Sie für Ihr Ikebana-Gesteck.
1. Die richtigen Pflanzen
Passend zur Jahreszeit können Blumen, Zweige, Knospen, Wurzeln, Baumrinden, Metall und Plastik miteinander kombiniert werden.
2. Ikebana-Schale mit Kenzan
Das Aussehen und die Höhe der flachen traditionellen Ikebana-Schale aus Keramik oder Glas ist sehr wichtig für die Wirkung des Blumengesteckes. Darin werden die Pflanzen mit einem Kenzan (etwa ein Steckigel aus Blei oder Gummi) in Wasser arrangiert.
3. Die Ikebana-Vase als Alternative für die Ikebana-Schale
Eine einfache Alternative ist eine Vase, meist aus Glas oder aus Keramik, mit einer Lochplatte, in der die Pflanzen drapiert werden und elegant im japanischen Stil arrangiert werden können.
4. Schere
Zum Stutzen und Schneiden der Pflanzen.
5. Draht
Um die Blumen im dekorativen Arrangement zu befestigen.
6. Wasser
Wird in die Schale oder Vase gefüllt.
Ikebana: 3 Ideen für die Blumenkunst
Sie wollen sich einmal selbst ausprobieren? AD zeigt drei inspirierende Ikebana-Ideen.
Für diese Ikebana-Idee wird zunächst eine zylinderförmige, mit Wasser befüllte Vase benötigt, in der Sie nun nach freiem Willen langhalsige Zweige und Blumen arrangieren können. Entfernen Sie dafür die Blätter, und spielen Sie dann mit unterschiedlichen Höhen und Winkeln, um eine visuell ansprechende Komposition zu erhalten. Tipp: Um die Zweige zu fixieren, lässt sich mit abgebrochenen Zweigen eine Art Kreuz in den Vasenhals setzen.
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Eine Schule des Ikebana trägt den Namen „Oharayui“ und ist der Überbegriff für angehäufte Blumenarrangements, die in flachen Schalen arrangiert eine eigene Landschaft formen.
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Möchte man sich an einem moderneren Ikebana-Arrangement probieren, kann man sich an die Regeln des „New Ikebana“ halten. Eine gestalterische Option wäre, seine Komposition in eine großzügige, mit Steinen gefüllte Schale zu setzen, und mit Hilfe eines Kenzans Blumen zu arrangieren.
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Ikebana-Meister Toshiro Kawase im Interview
Toshiro Kawase stammt aus Kyoto und zählt heute zu den einflussreichsten Meistern der Kunst des Pflanzenarrangements. Hier hat die älteste Ikebana-Schule Ikenobo ihren Sitz. Im AD-Interview erklärt der Meister seinen freien Stil, der sich nicht strikt an die zwei Hauptströmungen hält: Zum einen Tatehana, mit betont strengen, aufrecht stehenden Arrangements, und zum anderen Nageire, mit lose ins Wasser gelegten oder gestellten Blumen.
AD: In den 70er Jahren studierten Sie Kunst und Film in Paris, wollten nie wieder zurück nach Japan. Warum kam es anders?
Toshiro Kawase: Ich war überwältigt von der individuellen Freiheit des Westens. Plötzlich hatte ich ein Zimmer für mich allein und dachte, wie haben die Japaner das nur ausgehalten: keine Privatsphäre, kein Rückzugsort außer vielleicht ein Zimmer für Teezeremonien und japanische Blumenarrangements. Aber nach ein paar Jahren erkannte ich, diesem Individualismus fehlt der spirituelle Nährboden für die Kunst des Ikebana, dem ich mein Leben verschrieben hatte.
Woraus besteht dieser Nährboden?
Im Westen füllt ein Gott, ein einziger, das spirituelle Vakuum, beansprucht alles. Auch Altarblumen. Bunt, aufrecht und prachtvoll müssen sie ihm entgegenstrahlen. Und welken sie, dann haben sie ausgedient, landen im Müll. Dagegen beseelen unzählige Götter das japanische Leben. Jeden Wasserfall, Berg, Baum, jedes Grundstück und Auto bewohnt ein himmlisches Wesen. Der Westen hat seinem Gott ein menschliches Aussehen verpasst. Wir dagegen abstrahieren Spiritualität, versuchen, sie mit Anmut und Schönheit im Alltag zum Ausdruck zu bringen. Und damit auch das Vergängliche, wie etwa Jahreszeiten. Deshalb auch unsere Faszination für Kirschblüten.
Das Blumengesteck landet bei Ihnen nicht auf dem Kompost?
Nähert sich das Kunstwerk dem Ende, trage ich es von außen ab, Schicht für Schicht, und verteile die Reste in der Natur. Nicht nur welke Blüten und Blätter, auch Gräser und Äste, die schon verdorrt waren, als sie mir zum ersten Mal begegneten. Als Letztes dann den Stamm, die tragende Achse, die Verbindung zwischen dem Göttlichen und der Erde. Dieses Auflösungsritual erinnert mich an Schauspieler, wenn sie die Bühne verlassen, sich abschminken, ihre Theaterkleidung ablegen, um zu sich zurückzukehren.
Wenn eine Pflanzeninstallation schon von Anfang an vertrocknet ist, wie erkennen Sie, dass sie dem Ende zugeht?
Dafür gibt es keinen Maßstab. Die Magie eines Moments, eines Raums verblasst zusammen mit einem Stück Natur. Ich kann das fühlen. Ähnlich wie beim Essen. Irgendwann bist du satt. Bei manchen Speisen genügt ein Bissen, bei anderen brauchst du eine volle Mahlzeit.
Sie verweisen oft auf den russischen Regisseur Andrei Tarkowski. Wie kommt das?
Wegen ihm wohnte ich regelrecht in den Pariser Kinos, studierte wochenlang die gleichen Streifen wie „Solaris“ und „Andrej Rubljow“. Tarkowski positionierte Schauspieler in zauberhaften Raumatmosphären, filmte dabei mit langatmigen Einstellungen. Ich denke immer noch, er hätte in den Sets die Menschen nur mit Blumen austauschen müssen und wäre Ikebana-Meister geworden. Leider bewundert der Westen oft nur das Blumengesteck losgelöst vom Umfeld, der Gefühlswelt, den Jahreszeiten. Sagt hübsch, grazil, graziös. Das aber nenne ich Ausstellungshallen-Ikebana, es hat nichts mit meiner Kunst zu tun.
Können Sie das Umfeld, die Gefühlswelt, überhaupt ins Ausland transportieren?
Also, für eine Ikebana-Präsentation muss ich keine japanischen Blumen nach Europa bringen. Da reicht die Natur vor Ort. Und ein Teehaus, den traditionellen Bewunderungsraum für Gestecke, kann ich ebenfalls dort bauen. Schwierig wird es, wenn die Vorstellung von Schönheit nicht über einen frisch geschnittenen bunten Tulpenstrauß hinausgeht. Wenn wilde Gräser als Unkraut empfunden werden und welkes Laub als hässlich.
Wann wurde Ikebana Ihr Lebenssinn?
Schon mit vier Jahren vermutete ich, dass sich hinter japanischen Blumenarrangements ein eigenes Universum versteckt. Kein Wunder, denn meine Familie in Kyoto steht seit Generationen der ältesten Ikebana-Schule nahe. Ikenobo wurde vor 1300 Jahren gegründet. Trotzdem – selbst wenn Sie so eine Schule erfolgreich abschließen, heißt das nicht, dass Sie außer den formalen Regeln auch die spirituelle Ebene meistern können.
Meditieren Sie oder brauchen Sie Vorbereitungszeit?
Ich bereite mich nie für Projekte vor. Aber ich male mir im Kopf ständig neue Welten aus, die mir später die Natur unerwartet auf Spaziergängen zuführt. Ich sammle das morsche Rindenstück mit dem zerbrechlichen Farnblatt ein, dann den Moosfleck am Straßenrand und schließlich einen krummen Zweig hinter dem Parkplatz. Im Studio vereinen sie sich, haben aber schon lange zuvor in meiner Vorstellung gemeinsam existiert. Ich weiß, das klingt irrational. Bei der Arbeit selbst muss es nicht meditativ zugehen. Oft fotografiert mich mein Verleger. Wir unterhalten uns. Diskutieren. Scherzen. Und trotzdem entsteht dabei wieder ein kleiner, wundersamer Kosmos.
Wenn Sie bei Ihren Streifzügen auf ein perfektes Pflanzensetting der Natur stoßen, nehmen Sie es mit ins Studio?
Das passiert mir oft, aber es interessiert mich nicht, so paradox das klingt. Aus einem einfachen Grund: Perfektion schließt Imagination aus. Als Künstler will ich zu einer neuen Vorstellungswelt hinführen. Das Unperfekte ist Teil meiner Kunst, und die ist blühend, sterbend und krumm, genauso wie symmetrisch, verworren, pastellfarben und grau. Dennoch wohnt in ihr Ordnung, sie entsteht wie ein Haus mit Fundament, Träger und Dach, bis alle Teile wieder heimkehren zur Natur, der sie entliehen sind.









