Ein unkonventionelles Ferienhaus: das Finch Long House in West Sussex.
Die Anfrage war eigentlich ganz konventionell: Das Ferienhaus einer fünfköpfigen Familie sollte erweitert werden – die Familie brauchte mehr Platz für sich und ihre Besucher. Die Antwort des Architekturbüros hingegen ist denkbar unkonventionell: Im Süden Englands, in Kingston Gorse an der Küste von West Sussex, ließen Finch Architecture neben einem alten Gebäude von 1930 einen imposanten Anbau entstehen, der an umgedrehte Fischerboote denken lässt, die rote Verkleidung der ungewöhnlich geformten Volumen lugt schüchtern hinter dem Grün der Bäume hervor.
„Wir hatten tatsächlich Schwierigkeiten, einen überzeugenden Weg zu finden, dem ursprünglichen Haus genügend zusätzlichen Platz hinzuzufügen, ohne das Originalgebäude zu sehr zu verfremden“, sagt Nico Warr, Inhaber von Finch Architecture. „Es stellte sich heraus, dass die Größe dessen, was bereits da war, fast verdoppelt werden musste, um die Ambitionen der Familie zu erfüllen.“ Denn das Haus ist zwar „nur“ ihr Ferienhaus, doch die Familie bezieht es beinahe jedes Wochenende; sie ist sehr gesellig und hat oft Familie und Freunde zu Besuch, die dort ebenfalls übernachten.
Maritime Inspirationen, fernab der üblichen Klischees
„Wir kamen auf die Idee, eine alte Werkstatt, die neben dem Gebäude stand, zu ersetzen. Natürlich war dieses garagenartige Gebäude deutlich kleiner, aber es eröffnete uns gedanklich die Möglichkeit, das neue Gebäude vom alten Gebäude zu trennen.“ Als Nächstes stellte sich die Frage: Kopieren oder kontrastieren – also den Anbau im selben Stil wie das ursprüngliche Gebäude entwerfen oder einen modernen Weg einschlagen. Nico Warr entschied sich für Letzteres. Wobei er diese Entscheidung in keinster Weise dogmatisch betrachtet: „Ich glaube nicht, dass es eine Frage von falsch oder richtig ist. Es gibt eine Reihe von Fällen, in denen erfolgreich der Originalstil kopiert wurde, aber ich glaube nicht, dass wir auf diese Weise hier das erreicht hätten, was wir schaffen wollten.“
Darüber hinaus war es der ausdrückliche Wunsch der Bauherr:innen, etwas Unkonventionelles entstehen zu lassen. „Überrascht uns“, war einer der Sätze, der im Briefing fiel. „Wir hatten einen sehr erfüllenden Austausch“, resümiert der Architekt. „Wir haben die nahe gelegene Küste besucht, Fotos gemacht, Steinstücke, Treibholz und solche Dinge eingesammelt. Das war ganz wunderbar. Es war genau die Art von Aufträgen, von denen man als Architekt oder Designer träumt.“ Die endgültige Form des Anbaus ist das Resultat all dieser Eindrücke, aber auch eine Anspielung auf die alten nordischen Traditionen, bei denen umgestürzte Boote als Unterkünfte umfunktioniert wurden. Diese Mischung aus maritimem Erbe und küstennahen Materialien schuf eine einzigartige Designsprache für das Haus.
Die gekrümmten Volumen des Gebäudes laufen sanft ineinander
„Eine meiner Obsessionen in der Architektur ist das Volumen. Denn ich habe das Gefühl, dass besonders in Großbritannien, wo es so einen starken spekulativen Immobilienmarkt gibt, jeder von der Grundfläche besessen ist, den Quadratmetern und der Anzahl der Schlafzimmer.“ Was bei dieser Betrachtungsweise auf der Strecke bleibt? „Die Relevanz der Raumhöhe, das Volumen und die Qualität des Raumes.“ Denn für Warr ist ein Zuhause mehr als nur die Anzahl der Räume. „Ich interessiere mich für die Art und Weise, wie der Raum von unterschiedlichen Perspektiven aus wirkt. Die Römer waren beispielsweise unglaublich gut darin, Blickachsen zu schaffen.“
Wer einmal Florenz oder Rom besucht hat, weiß, was Warr meint – keine der Straßen ist gerade, sie verlaufen in sanften Kurven. „Erst als Mussolini die Macht übernahm und beschloss, dass alle Straßen gerade sein mussten, verschwand die Magie.“ Ähnlich gekrümmt und sich kreuzend wie die Straßen der geschichtsträchtigen Straßen Italiens ist der Grundriss seines Anbaus. Zwei Stränge münden ineinander, das Auge kann wandern, und der Körper ist motiviert, sich durchs Gebäude zu bewegen und die unterschiedlichen Blickpunkte wahrzunehmen. „Manchmal ist es so, dass man buchstäblich mit dem Rücken mitten auf dem Boden liegen möchte, um einfach nur an die Decke zu starren. Für mich ist das der Erfolg.“
Burgunderrotes Leder, Kork und Beton im Innenraum
Das Interieur des Long House ist großzügig, beinahe kathedral, wirkt aber dennoch behaglich. Das auffälligste Merkmal ist die Reihe von gewölbten Balken aus skandinavischer Fichte, die als geometrische, rippenartige Schale gefertigt sind und dem Raum ein natürliches und organisches Gefühl verleihen. Die Böden aus poliertem Beton sorgen für ein subtiles Wechselspiel zwischen Licht und Schatten. Die großen raumhohen Fenster an beiden Enden des Gebäudes lassen natürliches Licht den Raum durchfluten und geben den Blick auf die Grünflächen draußen frei. Die architektonische Verwendung von Kork und burgunderrotem Connolly-Leder zur Verkleidung der Innenwände schafft eine deutliche Trennung zwischen dem Wohn- und dem Schlafzimmer. Zwischen dem Wohnbereich und dem Hauptschlafzimmer liegt gleichzeitig die schwarz gestrichene Treppe, die zum Gästeschlafzimmer und zum Vorführraum im Erdgeschoss hinaufführt.
Richard Serra meets Wikingerboot
Das Äußere des Gebäudes ist mit vorpatiniertem Kupfer verkleidet, das Warr wegen seines satten orangeroten Farbtons auswählte, der den natürlichen Verwitterungsprozess nachahmt – und dennoch der Verwitterung standhält, im Gegensatz zu Stahl, der sich in der salzigen Atmosphäre der Küste zu schnell zersetzt hätte. Es entsteht eine auffällige und dennoch natürliche Ästhetik, die das Gebäude mit seiner Umgebung verbindet und einen Komplementärkontrast zum Grün des Gartens bildet – der, wenn es nach Warr geht, gerne in Zukunft noch etwas mehr zuwuchern dürfte, sodass man das Haus erst auf den zweiten Blick durch das Grün der Blätter hindurchblitzen sieht, und somit wieder für genau die Überraschung sorgt, die sich die Familie gewünscht hatte.











