Dieser Anbau in Berlin-Pankow schmiegt sich federleicht an den Bestand an.
Schmaler Anbau, große Wirkung: In Berlin-Pankow kommt an, was sonst in der Republik so unglaublich mühsam scheint – befreit zu bauen, ohne mit jeder Tonne Material gleich drei Tonnen Vorschriften zu bewegen. Polycarbonatplatten für die Fassade, eine neongelbe Wendeltreppe mitten ins Grün und Bauplatten fürs Schlafzimmer – fertig ist die urbane Laube. Das ist so herrlich unseriös und systemsprengend, dass die Wohnhauserweiterung gleich zu einer Denkraumerweiterung wird.
Die Berliner Supertype Group – Tobias Schrammek, Pia Brückner und Max Becker haben viel gewagt und noch mehr gewonnen. Die Aussicht auf heiße Sommer und nasskalte Winter jedenfalls hat die Bauherrin nicht abgeschreckt, im Gegenteil. Befeuert durch ihren Enthusiasmus ging das Trio „über die Grenzen des konventionellen Bauens hinaus“ und machte sich daran, ein „experimentelles Gebäude zu entwickeln, das am Ende doch sehr wohnlich ist.“ Klingt fast so, als wären sie selbst überrascht über das Ergebnis.
Hell, grün, luftig: Der Anbau schließt einen mehrgeschossigen Wintergarten mit ein
Schauen wir uns das Haus etwas genauer an. Das Erdgeschoss scheint den Garten zu verlängern, seine Holz-Skelett-Konstruktion steht wie auf Zehenspitzen da. Mit seinen Bodendeckern und Yucca-Palmen sieht das nach einem Treibhaus aus, in dem die Zukunft wächst. Im ersten Stock steht eine Badewanne, der Raum mehr Durchgang als Wellnessoase und nur durch einen Vorhang abgetrennt vom mehrgeschossigen Wintergarten. Unter der Dachschräge folgt nur noch das Schlafzimmer.
Frecher Anbau – und die große Freiheit
Schön schräg, schön leicht. Vor allem: ganz schön mutig. Tobias Schrammek, Pia Brückner und Max Becker haben einen derart frechen Anbau an eine Gründerzeitbebauung gelehnt, dass ihr Leichtgewicht alle Tiefgaragenfanatikern und Massivdenkern suspekt vorkommen muss. Das Gartenhaus ist ein Leichtbau, oder besser: eine wunderbare Luftnummer, in der sich Räume auflösen und Trennungen verschwinden. All seine Bausteine sind jedenfalls nicht dafür da, hier ewig herumzustehen. Das Haus kann Stück für Stück zerlegt und woanders wieder aufgebaut werden, die Übergänge zum Altbau im Erdgeschoss und im zweiten Obergeschoss würden dann wieder verschlossen.
Bauherrin und Baumeister fanden zu einem Haus, das sich viele Freiheiten nimmt, Dinge anders zu sehen. Das ging nur durch einen großen Vertrauensvorschuss. So aber konnte sich die Supertype Group intensiv mit Themen wie „der Systematisierung als Strategie zum sozial und ökologisch nachhaltigen Bauen, dem Gewächshausprinzip als Klimakonzept und Strategie zur Einbindung von Natur und Freiraum“ auseinandersetzen. Das Trio entwickelte zusammen mit Statiker Wataru Furuya einen regelrechten Baukasten, bei dem die Polycarbonatfassade die tragende Holzkonstruktion vor Witterung schützt. Ist das Ergebnis nun ein mehrgeschossiger Wohnbereich mit Wintergarten – oder doch ein Wintergartenhaus, wie der Anbau offiziell heißt?
Das Schönste an dem Projekt ist wahrscheinlich das: Es geht auch flinker, freier, verrückter. Das Trio hat sich dafür „intensiv mit Vorbildern“ beschäftigt, mit Experimenten von Otto Steidle bis Frei Otto. Mindestens genauso wichtig war der Blick auf den 1985 in São Paulo verstorbenen João Batista Vilanova Artigas, der vielen als der vielleicht bedeutendste Innovator Brasiliens gilt und dessen „Desenho“ (Design) vom Mut sprach, die Welt zu verändern – und zwar mit den Mitteln der Architektur, die für Menschen verbindet. Aber auch Marcos Acayabas flexible Holzkonstruktionen werden von Tobias Schrammek, Pia Brückner und Max Becker explizit als Vorbilder genannt. Samba in Berlin – etwas Schöneres konnte der Stadt nicht passieren.



